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Württemberg im Elsass – Eine vergessene Seite der Landesgeschichte

Einleitung

Wenn heute von Württemberg die Rede ist, denken viele an Stuttgart, Tübingen, den Schwarzwald oder das Neckartal. Kaum bekannt ist, dass sich das historische Territorium der Grafen und späteren Herzöge von Württemberg im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit weit über den heutigen Landesrahmen hinaus erstreckte – bis tief ins Elsass hinein. Insbesondere die Herrschaften Horburg und Riquewihr (Reichenweier) am linken Rheinufer waren bis zur Französischen Revolution Bestandteil des württembergischen Herrschaftsgebiets.

Diese „linksrheinischen Besitzungen“ bildeten keinen Nebenraum, sondern waren integraler Bestandteil des württembergischen Gesamtstaats. Sie wurden eigenständig verwaltet, militärisch geschützt, durch württembergische Pfarrer versorgt und spielten auch in der Religionspolitik der Reformation eine strategische Rolle. Und nicht zuletzt: Sie waren mitverantwortlich für die Gründung Freudenstadts – jener Planstadt im Schwarzwald, die als Bindeglied zwischen dem Kernland und den westlichen Besitzungen gedacht war.

Der Erwerb von Horburg und Riquewihr (1324)

Der Ursprung der württembergischen Präsenz im Elsass geht auf einen gezielten Erwerb zurück: Im Jahr 1324 verkauften die Brüder Walter und Burkhard von Horburg ihre Besitzungen – darunter die Herrschaften Horburg, Riquewihr, Zellenberg und weitere Orte im Oberelsass – an Graf Ulrich III. von Württemberg. Die Horburger, ein bedeutendes Adelsgeschlecht der Region, waren zu diesem Zeitpunkt hoch verschuldet und auf liquide Mittel angewiesen.

Dieser Erwerb war für Württemberg strategisch wie wirtschaftlich attraktiv: Die Region war durch Weinbau, Handel und fruchtbare Böden geprägt, dazu kam die Nähe zu wichtigen Verkehrsachsen über den Rhein und durch die Vogesen. Politisch bedeutete der Kauf einen Meilenstein: Es war der erste größere Territorialgewinn Württembergs jenseits des Schwarzwalds – und damit der Beginn einer grenzüberschreitenden Territorialpolitik, die den Blick konsequent nach Westen öffnete.

Riquewihr – Ein Kleinod unter württembergischer Herrschaft

Riquewihr, ein befestigter Ort mit Stadtrecht, entwickelte sich im 14. und 15. Jahrhundert unter württembergischer Herrschaft zu einem wirtschaftlich bedeutenden Zentrum. Die Grafen förderten gezielt den Ausbau der Stadtbefestigung, verliehen Marktprivilegien und ließen Verwaltungs- und Wirtschaftsbauten errichten. Noch heute zeugen zahlreiche erhaltene Fachwerkbauten vom spätmittelalterlichen Wohlstand des Ortes.

Ein besonderes Zeichen der württembergischen Prägung war die Einführung der Reformation: Bereits ab 1534 – im selben Jahr wie im Kernland – wurde der evangelisch-lutherische Glaube auch in den elsässischen Besitzungen Württembergs eingeführt. Die Pfarrer wurden meist in Tübingen ausgebildet, wo sie das württembergische Kirchenwesen im Geiste der lutherischen Orthodoxie fest verankerten.

Ausgangspunkt für Montbéliard – Württemberg wächst nach Westen

Die elsässischen Besitzungen bildeten nicht nur ein Verwaltungsgebiet, sondern auch ein politisches Sprungbrett: Ohne die Präsenz und Verankerung am linken Oberrhein wäre der Erwerb der Grafschaft Mömpelgard (Montbéliard) kaum denkbar gewesen. 1397 übernahm Graf Eberhard III. von Württemberg durch Heirat mit Henriette von Montfaucon die Herrschaft über Montbéliard.

Freudenstadt – Geplant als Brücke zum Elsass

Die Gründung Freudenstadts 1599 durch Herzog Friedrich I. ist nicht losgelöst von den elsässischen Besitzungen zu verstehen. Im Gegenteil: Die neue Residenzstadt sollte ein Brückenkopf zwischen den rechtsrheinischen Kernlanden und den linksrheinischen Gebieten Württembergs bilden. Sie entstand in einer Region, die zuvor nur dünn besiedelt war, strategisch gelegen am Übergang über die Schwarzwaldhöhen Richtung Kehl, Straßburg und Colmar. Freudenstadt war also keineswegs eine Stadt „am Rand“, sondern vom württembergischen Baumeister Heinrich Schickhardt, der mit der Planung und Durchführung beauftragt war, als Zentrum eines erweiterten württembergischen Gesamtstaats gedacht.

Herausforderungen und Konflikte

Die linksrheinischen Besitzungen Württembergs standen stets unter Druck. Zwar gehörten sie formal zum Heiligen Römischen Reich, doch ihr französischsprachiges Umfeld und der wachsende Einfluss der französischen Krone ab dem 17. Jahrhundert führten zu Spannungen. Immer wieder kam es zu Grenzstreitigkeiten, Eingriffen benachbarter Herren und diplomatischen Auseinandersetzungen.

Auch konfessionell standen die württembergischen Gebiete unter Beobachtung: Nach dem Dreißigjährigen Krieg drängte Frankreich zunehmend auf die Rekatholisierung des Elsass, was ab dem 17. Jahrhundert zum Einrichten zahlreicher Simultankirchen führte, in denen sowohl katholisch als auch lutherisch gepredigt wurde.

Der Verlust im 18. Jahrhundert

Der schleichende Bedeutungsverlust der elsässischen Besitzungen setzte im 18. Jahrhundert ein. Während der Französischen Revolution wurden Horburg und Riquewihr von Frankreich annektiert und gingen im Département Haut-Rhin auf. Der Friede von Lunéville (1801) bestätigte diesen Gebietsverlust endgültig.

Schluss: Erinnerung an ein vergessenes Kapitel

Heute erinnern nur noch Straßennamen, Kirchenarchive und vereinzelte bauliche Zeugnisse an das „württembergische Elsass“. Umso wichtiger ist es, sich dieses Kapitels der Landesgeschichte bewusst zu werden – auch in Freudenstadt. Die Gründung der Stadt ist ohne das linksrheinische Engagement der Herzöge von Württemberg nicht zu denken. Der Heimat- und Museumsverein Freudenstadt möchte mit dieser Darstellung an diese enge historische Verflechtung erinnern – und dazu anregen, das vermeintlich „ferne“ Elsass als Teil unserer eigenen Geschichte zu begreifen.

Dr. Louis-David Finkeldei, Kreisarchivar

Beitragsbild Foto Heike Butschkus